Der liebe Augustin

Im Wirtshaus zum „Zum Roten Dachl“ am alten Fleischmarkt hockte nur ein einziger Gast an der Theke. Seine Narrenkappe saß ihm schief auf dem Kopf, und er hatte Mühe, das Glas zu heben. Der liebe Augustin war sturzbetrunken. Den ganzen Abend hatte er gewartet, aber nicht ein einziger Zuhörer war gekommen. Dabei war heute doch Donnerstag, und am Donnerstag ging es beim Roten Dachl immer hoch her. Da kamen die Arbeiter und die Marktfrauen, die Handwerker und Büttel und sogar der Bürgermeister ließ sich das Konzert des lieben Augustin nicht entgehen. Jeden Donnerstag Abend beim Roten Dachl, da spielte er auf und machte seine Späße. Aber seit die Pest in der Stadt war, blieben die Gäste aus.

„Ich glaub, heut kommt keiner mehr“, sagte der Wirt und wischte mit dem dreckigen Fetzen über die Theke. „Was meinst du, August? Wer ma Sperrstund machen?“

Der liebe Augustin raffte sich auf und sah den Wirt aus verschwommenen Augen an.

„Ein Fluchtachterl noch“, lallte er und hielt sich krampfhaft an der Theke fest.

„Willst nicht lieber auf der Ofenbank schlafen?“, fragte der Wirt und stellte ihm das Glas hin.

„Nein, wird schon gehen.“ Der liebe Augustin kippte den Wein in einem Zug hinunter, nahm seinen Dudelsack und wankte zur Tür.

Die Häuser entlang taumelte der liebe Augustin über den Kohlmarkt Richtung Burgtor. In seinem Rausch hielt er den Blick starr zu Boden gerichtet, und so sah er nicht, dass schon wieder ein paar Häuser mit weißen Kreuzen markiert waren. Dort, in diesen Häusern waren alle gestorben, krepiert an der Pest. Es waren so viele Tote. Jeden Tag wurden es mehr und immer mehr, und der liebe Augustin dachte, das Sterben würde erst dann ein Ende nehmen, wenn auch der letzte Wiener in die Grube gefahren war. Da half nur eines, man musste singen und feiern, solange es noch ging. Bist du einmal tot, dann ist es vorbei mit dem schönen Leben.

Auf seinem Weg sah er die Leichenberge auf der Straße. Die Pestknechte arbeiteten zwar Tag und Nacht, aber sie schafften es nicht, alle Toten mit Karren aus der Stadt zu fahren und dort zu beerdigen. So warfen die Menschen die Leichen einfach auf die Straße, und da blieben sie dann und begannen zu verwesen. Ganz erbärmlich stank es hier, und es grauste dem lieben Augustin. Er wollte nur weg, nach Hause in sein kleines Zimmer in St. Ulrich.

„Lauf, lieber Augustin, lauf“, sagte er sich, und von Panik gepackt wollte er losrennen, aber seine Füße gehorchten ihm nicht. Sie verhedderten sich ineinander, und er stolperte, und es wurde ihm schwarz vor Augen.

Einige Stunden später, es dämmerte schon der Morgen, kamen zwei Pestknechte mit ihrem Karren beim Burgtor vorbei. Auf der Ladefläche stapelten sich die Leichen. Da stand ein Fuß, da ein Arm aus dem Haufen hervor, und überhaupt ging man nicht sehr zimperlich mit den Toten um. Als sie den lieben Augustin da liegen sahen, traten sie ihm gegen den Bauch und gegen den Kopf. Nur um sicher zu sein, dass er auch wirklich tot war.

„Wenn es den erwischt hat“, sagte einer der Pestknechte, „dann steht die Welt nicht mehr lang. Nimm seinen Dudelsack und leg ihn dazu. Der liebe Augustin soll auch da drüben aufspielen können.“

So karrten sie den lieben Augustin hinaus in Richtung St. Ulrich. Jetzt kam er doch noch nach Hause, wenn auch nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Bei der Pestgrube luden die Knechte den Wagen ab und warfen die Leichen ins Massengrab. Auch der liebe Augustin landete mitsamt seinem Dudelsack in der Grube. Dann machten sich die Pestknechte wieder auf den Weg. In Wien gab es noch jede Menge Arbeit, und das Grab würden sie wohl heute Nachmittag oder überhaupt erst Morgen zuschaufeln.

Da lag er nun, der liebe Augustin, eingeklemmt zwischen den Toten und leise schnarchend. Bald schien ihm die Sonne ins Gesicht, und Fliegen krabbelten ihm in die Nase. Zuerst wischte er die Fliegen mit der Hand weg, aber das half wenig. Er versuchte, sich zur Seite zu drehen, aber das ging nicht. Jetzt schlug der liebe Augustin die Augen auf und sah einer toten Frau direkt ins Gesicht.

„Um Gottes Willen“, entfuhr es ihm. „A so a schiaches Gfrieß.“

Es stank nach Tod und Verwesung, und wohin sich der liebe Augustin auch drehte, überall waren Leichen.

„Jetzt hat’s mich erwischt“, dachte er. „Entweder ich bin tot und schon ein Geist, oder ich hab eindeutig zu viel gesoffen. Aber sei es, wie es sei. Der liebe Augustin lässt sich vom Tod nicht ins Bockshorn jagen. Sing, lieber Augustin, musst singen, dann wird selbst die Pest Reißaus nehmen vor dir.“

Den Dudelsack hatte er gleich gefunden, und so setzte sich der liebe Augustin nun mitten unter die Toten, blies in seinen Dudelsack und begann zu singen.

O du lieber Augustin,

Augustin, Augustin,

o du lieber Augustin,

alles ist hin! Geld ist weg, Mensch ist weg, alles hin, Augustin. O du lieber Augustin, alles ist hin.

Sein Lied klang über das Grab hinaus, und einige Pestknechte, die gerade mit einer weiteren Ladung Leichen kamen, hörten es. Sie standen verwundert am Rand der Pestgrube und starrten auf den lieben Augustin hinunter. Sie konnten nicht glauben, dass da einer von den Toten aufgestanden war und jetzt mitten unter den Leichen seinen Dudelsack spielte.

„Wollt’s mir nicht helfen“, rief er zu ihnen hinauf. „Oder werd’s noch eine Weil Maulaffen feilhalten?“

Die Pestknechte ließen einen Strick zu ihm hinunter und halfen ihm so aus der Grube, und als der liebe Augustin vor ihnen stand, putzte er seinen alten Rock ab, setzte die Narrenkappe wieder auf und ging davon. Noch eine Weile konnten die Pestknechte sein Lied hören: Rock ist weg, Stock ist weg, Augustin liegt im Dreck, o du lieber Augustin, alles ist hin. Und selbst das reiche Wien, hin ist’s wie Augustin; weint mit mir im gleichen Sinn, alles ist hin! Jeder Tag war ein Fest, und was jetzt? Pest, die Pest! Nur ein groß’ Leichenfest, das ist der Rest. Augustin, Augustin, leg’ nur ins Grab dich hin! O du lieber Augustin, alles ist hin!

An der Stelle der Pestgrube befindet sich heute das Strohplatzl. Dort ließ der Wiener Bürgermeister Karl Lueger 1908 zu Ehren des lieben Augustin einen Brunnen errichten. Dort steht der liebe Augustin noch heute. Nur während des Zweiten Weltkriegs verschwand er für einige Jahre. Die Nationalsozialisten schmolzen die Statue für Kriegszwecke ein. Ein geistiger Nachfahre des lieben Augustin, schrieb eines Nachts folgende Zeilen auf den leeren Sockel des Brunnens: „Der Schwarzen Pest bin ich entronnen, die braune hat mich mitgenommen.“

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